Heißer Sommer 1968
Ein Zeitzeugenbericht vom Einsatz der
11.Motorisierten Schützendivision Halle/ S
während der Krise in der CSSR
Strausberg, Stadt a. See
Krise in der CSSR. Ein Zeitzeugenbericht von Joachim Kampe,
geschrieben, 45 Jahre später
Die Lage in der CSSR ist angespannt, das Land befindet sich in einer politischen und wirtschaftlichen Krise. Allem Anschein nach bewegt sich das Land in seiner politischen und
wirtschaftlichen Entwicklung abweichend von der „Generallinie“ der Kommunistischen Partei der UdSSR. Gedanken in dieser Richtung sind Gesprächsstoff im Familien- und
Freundeskreis. Wer will und kann das verstehen, angesichts der staatlichen Pressemeldungen. Von einer Krise ist die Rede, doch wie ausgeprägt ist sie, davon ist nichts zu hö-
ren. Im Zusammenhang Meldungen zu größeren Manövern der Sowjetarmee in den westlichen Gebieten der UdSSR. Besteht ein Zusammenhang ?. Es bleiben Spekulationen.
Ich bin Kompaniechef der Draht- und Richtfunkkompanie im Nachrichtenbataillon 11 der 11. Motorisierten Schützendivision der NVA mit dem Stab in Halle/ S. Noch vor rd. 10
Jahren war ich Soldat auf einer Richtfunkstation R- 401, wie sie Mitte der 1950er Jahre aus der UdSSR im Bataillon eingeführt wurde
Divisionsübung der 11.MSD 1959 / Der Autor am Kotflügel eines K-30 (Privatarchiv)
Überraschend für mich, ein kurzfristig befohlenes Gespräch beim Leiter Nachrichten des Stabes der
11.MSD, Oberstleutnant Schulze, Friedrich, Ende Juni. Er weist einleitend auf die politische Situation in
der CSSR hin und zieht sofort eine Parallele zu einem laufenden Manöver in der UdSSR mit der Tarn-
bezeichnung „Sumava“, eine Kommandostabsübung mit den Armeen der CSSR, Polens und der UdSSR.
Eine Ausdehnung auf das Gebiet der DDR ist nicht ausgeschlossen. Die Division hat die Aufgabe,
Vorbereitungen zu treffen, ein Nachrichtenkommando hat kurzfristig in einen Raum in der Nähe des Her-
msdorfer Autobahnkreuzes, zu verlegen. Nur wenige Nachrichtenmittel, eine Richtfunkstation, eine Fern-
sprechvermittlung, ein Fernschreib-, Stabs- und ein Leitungsbautrupp. Funkmittel verboten sich infolge der
Möglichkeiten der gegnerischen Aufklärung. Zur rückwärtigen Sicherstellung gehörte eine Feldküche. Das
Kommando stehe unter meinem Befehl. Die Aufgabe, Entfaltung einer Nachrichtenzentrale und Aufnahme
von Verbindungen zum Militärbezirk Leipzig und zur Objektnachrichtenzentrale des Stabes der Division.
Entsprechende Leitungsschaltungen sind bei Deutschen Post angewiesen. Die Abhol-, bzw. Anschalt-
punkte werden nachgereicht. Es ist nicht auszuschließen, das der Stab der Division in Kürze folgt. Der
Einsatz kann länger dauern. Ich war nicht nur überrascht, auch einer der ersten Nachrichtenoffiziere, die
eingeweiht waren und sich über die Konsequenzen Gedanken machte.
Bereits einen Tag später erfolgte die Verlegung. Der Abschied von der Familie war beklemmend. Die Frage nach dem Zeitpunkt einer Rückkehr vermochte ich nicht zu
beantworten.
Der Leiter Nachrichten persönlich begleitete und führte das Kommando bis zum Entfaltungsraum in der Nähe des Hermsdorfer Kreuzes. Hier verabschiedete er sich. Besonder-
heiten waren im persönlich zu melden. Die Tage vergingen, eigentlich eine schöne, ruhige Zeit, fern vom Stress in der Kaserne. Nichts passierte, außer das die Nachrichten-
meldungen des Rundfunks intensiv verfolgt wurden. Und die ließen nichts Gutes erwarten. Es folgte ein weiteres Manöver der Vereinten Ostseeflotten. Seine Tarnbezeichnung
„Sevor“ . Die Übung der Rückwärtigen Dienste auf dem Gebiet der westlichen UdSSR mit der Tarnbezeichnung „Neman“ erstreckte sich nun auch auf das Gebiet der DDR. Von
einer Dauer bis zum 10.August 1968 war die Rede.
In der zweiten Hälfte Juli 1968 wurde der Divisionsstab mit seinen Stabseinheiten und alle Truppenteile der Division zur Verlegung alarmiert. Mit unserer Ruhe war es vorbei. Es
kam zur vollen Entfaltung der Nachrichtenzentrale des Stabes und der Stabseinheiten im Raum Hermsdorf. Das organisierte Dienstregime gewährleistete die Arbeit der Nach-
richtenzentrale, ihre militärische Sicherung sowie die politische und militärische Ausbildung unter Feldbedingungen. Zu hören war von bevorstehenden längeren Märschen des
Stabes und der Truppenteile auf mehreren Marschstraßen, die Ziele und der Zeitpunkt blieben unbekannt. In den Objekten verbliebene Reserven wurden nachgeführt. Die allge-
meine militärpolitische Lage versprach keine Besserung, ganz im Gegenteil. In den politischen Gesprächen und Parteiversammlungen standen mehr und mehr die Bündnis-
pflichten der NVA gegenüber den anderen Armeen der Koalition im Mittelpunkt.
Am 20.August, überraschend die Verlegung vom Hermsdorfer Kreuz als Vorkommando in südlicher Richtung. Noch während des Marsches, Mitternacht war bereits überschritten,
hörten wir vom Einmarsch sowjetischer Truppen in die CSSR. Damit waren Spekulationen zur Wahrheit geworden und mögliche Handlungen der Division wurden zu Gedanken-
spielen. So freundlich wie man uns während des Manövers „Moldau“ im Jahre 1966 in der CSSR empfangen hatte, würde wohl ein erneuter Empfang nicht ausfallen. Doch dazu
kam es nicht. Wir bewegten uns nun in südöstlicher Richtung, der Grenze der CSSR entgegen. Im Vogtland, nahe der Grenze zur CSSR, im Raum Ölsnitz, Adorf, Eibenstock,
Rodewisch kam die Bewegung zum stehen. Walter Ulbricht hatte der NVA befohlen, nicht in die CSSR einzumarschieren.
Die Nachrichtenzentrale (NZ) des Stabes der Division wurde unweit der Ortschaft Kottengrün, nordöstlich von Ölsnitz, entfaltet. Es dauerte nicht lange und der Stab der Division
traf im vollen Bestand im bezeichneten Raum ein. Die Division war einer sowjetischen Armee unterstellt. Grund für die Entfaltung auch eines sowjetischen Nachrichtentrupps
innerhalb der Grenzen der Nachrichtenzentrale. Es war ein WTsch- Trupp zur Sicherstellung von Regierung- WTsch- Verbindungen zum vorgesetzten Stab und weiter. Er war aus
dem WTsch- Truppenteil 33500 der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) zukommandiert.
Stark bewacht, von Bändern zwischen den Bäumen eingerahmt, dufte sich niemand diesem Trupp nähern. Zwischen der Besatzung und mir kam es infolge der von uns organi-
sierten rückwärtigen Sicherstellung und zu treffender Absprachen zu einem vertrauensvollen Verhältnis. Es führte dazu, dass ich einmal den Arbeitsbereich betreten konnte.
Ringsherum im Kofferaufbau des Fahrzeuges hingen dunkle Vorhänge von der Decke. Dahinter die Spezialnachrichtengeräte, wie ich heute weiß. An der Stirnseite die halb ver-
deckte Verbindungsübersicht. Es war mir fast peinlich, doch die Städte Moskau, Warschau, Berlin und Prag habe ich im Schema schnell entdeckt. Mir wurde die Bedeutung eines
solchen Trupps bewusst. Den Stöpsel einmal in die Klinke gesteckt, den Rufgenerator in Gang gesetzt und schon meldete sich eine Stimme in Moskau oder Zwischenstationen in
Minsk oder Kiew. Das hat mich beeindruckt.
Lage von Stäben und Truppenteilen der 11.MSD an der Grenze zur CSSR/ mit freundlicher Genehmigung:
Quelle: Oberstleutnant a.D. Ing. Waldt, Dieter
Sowjetische Truppen in der CSSR, die 11.MSD hier unmittelbar an der Grenze und die 7. Panzerdivision
der NVA aus Dresden als Nachbar. Sie hatte auch an die Grenze verlegt, stand voll entfaltet in Bereit-
schaft. Wie würde der Westen, die NATO militärisch reagieren. Das politische Getöse war groß, man
überschlug sich mit Meldungen. Gibt es eine unmittelbare militärische Auseinandersetzung mit der NATO
oder nicht. Stehen wir am Abgrund zu einem neuen Weltkrieg ?. Keiner war in der Lage die Fragen zu
beurteilen und zu beantworten. Wir wurden darauf vorbereitet. Kurzfristig erfolgte die Ausgabe und Ver-
teilung von scharfer Munition auf die Trupps der Nachrichtenzentrale. Das machte die Gedankenspiele
nicht einfacher. Ein Kampfsatz an Munition pro Angehöriger der Besatzung, dazu Munitionskisten mit
Handgranaten auf den Fahrzeugen. Spätestens jetzt wurde jedem Einzelnen der Ernst der Lage be-
wusst. Mancher zeigte beim Transport der Kisten Blässe im Gesicht. Das war nicht zu übersehen. Die
Truppführer von Funktrupps kleiner Leistung wurden individuell in mögliche Aufgaben zur Sicherung von
Funkverbindungen an Marschstraßen eingewiesen. Anschläge wären nicht ausgeschlossen. Auf mög-
liche Gefahren wurde aufmerksam gemacht. Vorbereitete und versiegelte Umschläge mit Marschrouten
auf topografischen Karten, Stellplätzen und Funkunterlagen wurden ihnen ausgehändigt. Ihre Anwen-
dung sollte mit der Übergabe eines Kennwortes erfolgen. Die eingetretene Lage gab Anlass zu ernsten
Gedanken. Das war in der Truppe zu spüren, auch Angst machte sich breit.
Ende August wurde gemäß Anordnung Nr. 19/ 68 des Stellvertreters des Ministers und Chef des Haupt-
stabes mobil gemacht. Reservisten aus den Bereichen Plauen und Bautzen der Deutschen Post wurden
einberufen und Postabholpunkte als militärische Bereiche eingerichtet In der NZ des Stabes der 11.MSD
wurde eine Feldpostzentrale entfaltet. Ab sofort erreichte Brief- und Telegrammpost die Angehörigen der
11. MSD mit der Postanschrift Militärpostamt 11. Für die Verkürzung der Transportwege wurden Hub-
schrauber eingesetzt. Damit war die Verbindung zu den Angehörigen, Familien und Freunden über den Weg der Feldpost hergestellt. Viele hatten seit Wochen keinen Kontakt.
Pflichtbewusst und vertrauensvoll kümmerten sich die Zurückgebliebenen in den Kasernen an den Standorten der ständigen Dislozierung um die Familien der Berufssoldaten an
den Standorten, führten Gespräche, gaben Hilfestellung, wo sie erforderlich und notwendig war.
Das Leben im Busch begann sich zu stabilisieren, die internationale Lage hatte sich geringfügig zum Positiven gewendet. In Aussicht gestellt und verwirklicht wurden den Be-
rufssoldaten Wochenendheimfahrten. Zu einem ersten Konvoi von Fahrzeugen gehörte auch ich, der seit Ende Juni die Familie nicht mehr gesehen hatte. Mehrere Stunden
Fahrt in einem Fahrzeug vom Typ GAS-69 nahm ich gern in Kauf. Die Freude war groß, die Stunden daheim, nur wenige waren es.
Zu den Elementen der Nachrichtenzentrale des Stabes der 11. MSD gehörte ein Hubschrauberlandeplatz. Regelmäßig starteten und landeten die Hubschrauber, als Kuriermittel
oder als Flugkörper für den Transport von Stabsoffizieren oder dem Kommandeur der Division. Er hatte sich zu Dienstbe-
sprechungen beim vorgesetztem Stab der Sowjetarmee einzufinden, oder beim Militärbezirk Leipzig der NVA. Eines Tages
herrschte am Start- und Landeplatz große Aufregung. Ein Hubschrauber mit dem Kommandeur der Division Oberst Dirwelis,
Erich an Bord, war beim Start aus ca. drei Meter Höhe abgestürzt, wie ein Stein herunter gefallen. Kreidebleich verließ er und
weitere Offiziere unverletzt den Hubschrauber. An das Besteigen eines zweiten Hubschraubers war zunächst nicht zu denken.
Meine Tage im Einsatz waren gezählt. Mitte September hatte ich mich an der Lehranstalt der NVA in Naumburg zu melden. Die
Vorbereitungen für ein Auslandsstudium liefen planmäßig. Nicht einmal meine Dienstgeschäfte als Kompaniechef konnte ich
ordnungsgemäß übergeben. Ich verabschiedete mich von meinen Genossen, wir waren alle näher zusammengerückt. Keiner
von ihnen hat enttäuscht. Weniger disziplinierte in der Dienststelle am Standort, gehörten hier zu den Besten und Zuverlässigs-
ten.
Gern erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen SPW- Fahrer aus Berlin, ein leidenschaftlicher Biertrinker, hier im Ein-
satz verhielt er sich vorbildlich. Das war für mich als Vorgesetzter eine neue Erfahrung.
Erst in der zweiten Hälfte Oktober 1968 kehrte der Verband 11.MSD in seine Standorte zurück. Die Bevölkerung begrüßte die
Einheiten und Truppenteile herzlich, dankte den Soldaten für ihren Einsatz. Der Einsatz war beendet, vorbildlich haben die An-
gehörigen der Division ihren Auftrag erfüllt. Keiner von ihnen hat im Rahmen des mehrmonatigen Einsatzes jemals das Terri-
torium der CSSR betreten.
Im Feldpostamt der 11.MSD / mit freundlicher Genehmigung: Oberstleutnant a.D. Dipl.-Ing. Schulze, Friedrich
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